Susanna Piontek
Die Frau meines Lebens
Wieder ein Blick auf die Uhr. Noch zwölf Minuten. Mein Hals ist trocken, die Hände steif vor Kälte. Wie Eiszapfen fühlen sich meine Finger an, die Haut ist bläulich. Ich friere und schwitze gleichzeitig. Im Zugabteil ist es warm, der ältere Herr mir gegenüber trägt zu der dünnen Khaki-Hose nur ein kurzärmliges kariertes Hemd. Die stark behaarten Arme hat er vor der Brust verschränkt, der eiförmige Kopf ist leicht zur Seite geneigt; er schläft geräuschlos und friedlich. Ich bin froh, dass ich mich nicht unterhalten muss. Seine gleichmäßigen Atemzüge würden unter anderen Umständen beruhigend auf mich wirken.
Noch zehn Minuten. Ein schweißiges Rinnsal läuft meinen Rücken hinunter und versickert im Hosenbund. Das T-Shirt klebt an mir, die Beine sind übereinandergeschlagen, ein Fuß wippt ohne Unterlass. Nervös ziehe ich immer wieder an meinen Schnurrbarthaaren. Nun werden auch meine Hände feucht, verkrampft reibe ich sie an den Oberschenkeln trocken.
Die Landschaft fliegt vorbei, schnelle grüne Bilder. Meine Mutter hat mich gelehrt, die Natur zu lieben. Von klein auf ging sie mit mir hinaus auf die Felder, in den Wald. Mit unendlicher Geduld nannte sie mir immer wieder die Namen von Pflanzen und Wildkräutern, die wir gemeinsam pflückten und trockneten. Auch mit Pilzen kenne ich mich aus. Nie werde ich das Glücksgefühl vergessen, das mich erfasste, als ich an einem Baumstamm meine erste “Krause Glucke” entdeckte. Sie war riesengroß und wir verkauften sie für 50 Mark an ein gutes Restaurant, das für seine hervorragenden Pilzgerichte bekannt war. Damals war ich neun Jahre alt.
Heute habe ich keinen Blick für die Schönheit der Natur. Noch sieben Minuten. Mein Magen krampft sich zusammen, während mein Herz immer schneller schlägt. Die ersten vier Stunden der Fahrt waren noch angenehm, ich musste einmal umsteigen und gönnte mir ein Eis, während ich auf den nächsten Zug wartete. Ich verdrängte den Zweck meiner Reise, es gelang mir sogar, mich auf ein Buch zu konzentrieren, das ich für ein Seminar an der Uni lesen musste. Die Nervosität hatte erst nach dem Anruf meiner Mutter eingesetzt. Sie wolle nur hören, wie es mir gehe und in Gedanken sei sie bei mir. Mehr konnte ich nicht verstehen, denn es kam ein Funkloch und die Verbindung riss ab.
In sechs Minuten soll es soweit sein. Ich schließe die Augen und versuche wohl nun schon zum hundertsten Mal in den vergangenen Tagen, mir Ursulas Gesicht vorzustellen. Letzte Nacht hatte ich sogar von ihr geträumt. Ich sah eine schöne junge Frau vor mir mit langen dunklen Haaren. Sie waren glatt und über der Stirn gescheitelt. Das Gesicht schmal, mit hohen Wangenknochen, eine Stupsnase über einem breiten Lächeln. Es war Sommer, sie trug ein helles geblümtes Kleid und ihre Bewegungen waren anmutig. Im Traum lief sie mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.
Vier Minuten. Zur Erkennung würde sie eine gelbe Rose in der Hand halten, hatte sie mir am Telefon gesagt.
Ich male mir aus, wie das Wochenende verlaufen würde, die ersten scheuen und doch neugierigen Blicke zwischen Ursula und mir, dann Gespräche, stundenlang, Fragen, Antworten, Schweigen, vielleicht auch Lachen. Gemeinsame Mahlzeiten, Spaziergänge, eventuell eine Umarmung?
Ich stehe auf, wische mir mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und schaue aus dem Fenster. Der Zug wird langsamer und nähert sich dem Bahnhof. Allmählich kann ich die Leute ausmachen, die dort, vor der gleißenden Sonne geschützt, das Eintreffen des Zuges erwarten. Ein Mann mit Aktenkoffer, eine junge Frau mit Rucksack und zwei kleinen Kindern an der Hand, eine Gruppe Jugendlicher. Gerade will ich nach meiner Reisetasche greifen und zum Ausgang gehen, als ich die Frau mit Rose auf dem Bahnsteig entdecke. Der Zug ist zum Stehen gekommen, in zwei Minuten wird er weiterfahren.
Mit der Tasche in der Hand verharre ich am Fenster und starre hinaus, unfähig mich zu bewegen. Sie steht nur ungefähr fünf Meter von mir entfernt, mir kommt es vor wie Lichtjahre. Eine gelbe Rose an die Brust gedrückt, gleitet ihr Blick suchend am Bahnsteig entlang. Der Zug spuckt Leute aus und nimmt neue auf und ich bleibe noch immer wie angewurzelt an meinem Platz am Fenster und rühre mich nicht. Die Frau ist groß und massig, das gelblich gefärbte, hochtoupierte Haar gibt den Blick auf einen dunklen Haaransatz frei. Gierig zieht sie an einer Zigarette, um sie kurz darauf mit einer ihrer hochhackigen roten Riemensandaletten auszutreten. Stämmige Beine werden an den Oberschenkeln von einem knappen roten Minirock umschlossen. Sie hatte sich in ein enganliegendes tief ausgeschnittenes weißes T-Shirt gezwängt, das mehr freigibt als es verbirgt. Das Gesicht ist aufgedunsen und von ungesunder Blässe, ihre blutrot angemalten Lippen hingegen leuchten und die mit schwarzem Kajalstift dick umrandeten Augen tasten aufgeregt die Aussteigenden ab. Während ich sie beobachte, geht sie einige Schritte unruhig auf dem Bahnsteig hin und her, immer wieder um sich blickend. Sie ist wesentlich älter, als ich sie mir vorgestellt hatte, wirkt billig und verbraucht und sieht aus, als würde sie auf einen Freier warten.
Der Schaffner gibt das Signal zur Weiterfahrt. Noch könnte ich herausspringen aus dem Zug, auf die Frau zugehen, die ich nur von zwei Telefonaten kenne.
Es ist mir nicht möglich. Ich schaue auf diese immer nervöser werdende, dralle Gestalt hinunter und spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen. Langsam setzt der Zug sich wieder in Bewegung. Ich behalte Ursula im Auge, bis sie nur noch ein rot–weißer Punkt ist. Nie wieder werde ich sie anrufen. Wenigstens habe ich sie einmal gesehen, die Frau, die mich sofort nach meiner Geburt zur Adoption freigegeben hatte.
The Woman of My Life
Another quick glance at my watch. Twelve minutes to go. My throat is dry. I feel cold, then hot. Sweaty palms. The train compartment is too warm; the elderly man sitting opposite me is wearing just a short-sleeved checkered shirt with thin khaki pants. His hairy arms are crossed over his chest; his egg-shaped head slightly tilted to one side. He’s sleeping peacefully and noiselessly. I’m glad that I don’t have to talk to anyone. Any other time his even breathing would calm me down.
Ten minutes to go. A thin rivulet of sweat runs down my chest and stops at my belt. My T-shirt sticks to me. My legs are crossed, and my right foot jiggles incessantly. I keep pull nervously at my mustache. My hands are still damp. Tense, I dry them against my thighs.
The landscape is flying by – fleeting green pictures. Mom taught me to love nature. Even when I was a small boy she’d walk with me through the fields and forests. She would always repeat the names of the plants and herbs that we gathered and dried. I know my way around mushrooms too. I’ll never forget how happy I was the first time I found a cauliflower mushroom growing around a tree trunk. It was huge and we sold it for 20 dollars to a very good restaurant known for its delicious mushroom dishes. I was nine years old then.
But today I’m taking no notice of the beauty of nature. Seven minutes to go. My stomach is cramping, and my heart is beating faster and faster. The first four hours of the train ride were okay. I had to transfer once and enjoyed an ice cream cone while I waited for the connecting train. I didn’t think about the purpose of my trip. I even managed to concentrate on a book for a seminar at my university. My nervousness set in only after the telephone call from my Mom. She just wanted to know how I was feeling and said she was with me in her thoughts. I couldn’t understand the rest, because her voice faded out and then the connection dropped.
Six minutes more and I’ll be there. I close my eyes and try, perhaps for the hundredth time in the last few days, to visualize Ursula’s face. I even dreamt of her last night. I saw in front of me a beautiful young woman with long, dark hair, smooth and parted across her forehead. Her face was narrow with high cheekbones; a delicate nose above a smiling mouth. It was summer in my dream, and she was wearing a light, flowered dress. Her movements were graceful. She was running towards me with open arms.
Only four minutes. Ursula told me on the phone that she will be holding a yellow rose so I will recognize her. I’m imagining the weekend – our first shy, yet curious glances, then conversation for hours at a time, questions, answers, periods of silence, laughter too, perhaps. Meals together, walks, maybe a hug?
I get up, wipe the perspiration from my forehead with a handkerchief and look out the window. The train slows down; it is approaching the station. Gradually, I can make out the people who, protected from the gleaming sun, are awaiting the train’s arrival – a man with a briefcase, a young woman with a backpack and two small children, a group of youngsters. I am just about to grab my luggage and head for the exit, when I spot a woman with a rose in her hand. The train has stopped; in two minutes it will move on.
Bag in hand I remain at the window and stare out, unable to move. She is standing about ten feet from me, but it’s as if she’s on the moon. A yellow rose is pressed to her chest, her gaze is sweeping the length of the train. The train ejects people and swallows new ones, but I’m rooted to my place at the window and do not move. She is tall and thickset; her bleached yellow hair is combed back severely, revealing a dark hairline. She greedily draws on a cigarette, then stamps it out with her high-heeled strappy red sandals. Her heavy legs are girdled at the thighs by a tight red miniskirt. She has forced herself into a close-fitting white T-shirt with a wantonly neckline. Her face is bloated and sallow. In contrast, her painted, blood red lips sparkle, and her eyes, broadly edged by dark eyeliner, scan the descending passengers excitedly. As I watch, she walks agitatedly up and down the platform, continuously looking around. She is older than I had imagined, and she looks like she is looking for a paying customer.
The conductor gives the signal for the train to continue on its journey. Even now I could jump out of the train and walk up to the woman whom I only know from two telephone conversations.
I can’t do it. I look down at her increasingly nervous figure. I feel tears rising to my eyes. The train slowly begins to move. I keep looking at Ursula until she becomes a red and white dot. I will never call her again. At least I have seen the woman who gave me up for adoption immediately after my birth.