Rezension des israelischen Schriftstellers Chaim Noll

Veröffentlicht in der Zeitschrift Mut, Forum für Kultur, Politik und Geschichte,
September 2006

Von der Nichtigkeit des Bösen
Susanna Pionteks Erzählungen aus einer haltlosen Sphäre

„Das böse Kind“ heißt eine Erzählung von Susanna Piontek, in der ein kleines Mädchen zum Entsetzen der Mutter sein Meerschweinchen tötet. Nach und nach erfahren wir den Grund für die Bluttat: das Meerschwein war das Mittel, mit dem der ältere Bruder seine Schwester erpresste, um sie weiterhin mit seinen sexuellen Phantasien belästigen zu können. Der Impuls ist übergesprungen, vom schwachen Bruder auf die noch Schwächere. Der epidemische Charakter des Bösen wird sichtbar in einer scheinbar unbeträchtlichen Handlung.
Der vorauseilende Gehorsam des Mädchens erweist sich als sinnlos, sogar kontraproduktiv. Der Bruder, seines Druckmittels beraubt, droht nun die Oma umzubringen, falls die kleine Schwester nicht weiterhin zu seinen nächtlichen Besuchen in ihrem Zimmer schweigt. Wir sind nicht ganz sicher, ob er es fertig brächte. Andererseits, was hindert ihn? Woher sollte er Skrupel kennen, seine Drohung auszuführen? Der Dekalog ist weitgehend aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden.

Die Stärke der Texte von Susanna Piontek liegt in diesen Botschaften, die sich in alltäglichen Geschichten verbergen. Tatort Kinderzimmer, Fernsehcouch, Zahnarztstuhl. An diesen biederen Stätten werden Gaunereien, Betrügereien, Gewalttaten, in einigen Fällen Morde geplant und begangen. Menschen verstehen ihr Leben als Experiment: wie weit dürfen sie sich vorwagen? Unmerklich driften die Figuren hinüber ins gestern noch Verbotene, heute vielleicht schon Machbare. Verstohlen überqueren sie die dünne Grenzlinie zwischen Normalität und Verbrechen. Sie sind ihrerseits manipuliert, nicht ganz bei Besinnung, in Fernseh-Trance, unter dem Einfluss von Psycho-Pharmaka. Im Banne eines verordneten Hedonismus schrecken sie vor nichts zurück, um sich Vorteile, Geld, Lustgewinn, sogenannten „Spaß“ zu erkämpfen.
Daher sind Ehebrüche, anonyme Briefe, heimliches Bespitzeln, Erpressung und Intrige das tägliche Leben dieser kleinen Machiavellisten. Eine junge Frau, gut aussehend, aber arm, hat sich darauf spezialisiert, wohlhabende Männer zu heiraten, die an schweren Herzkrankheiten leiden. Ein befreundeter Arzt gibt ihr die Tips. Sie verführt die Männer zu ihnen unbekömmlichen Vergnügungen, bringt sie unter die Erde, beerbt sie. Was sie tut, ist nicht strafbar. Sie betrachtet Menschen unter einem heute üblichen Aspekt: als Konsum-Gegenstände, als zu Verbrauchende.

Oft enden Pionteks Geschichte in verblüffenden Pointen. Der gepflegte alte Herr, der in Cafés die Bekanntschaft alleinstehender Frauen sucht, kann zunächst ein einsamer Mann auf Partnersuche sein. Etwas ist an ihm, das misstrauisch macht, das Witternde, Lauernde, die betonte Gediegenheit seiner Aufmachung. Piontek führt nach und nach, mit viel erzählerischem Geschick, kleine Verdachtsmomente ein. Wir vermuten ein nicht ganz redliches, irgendwie auf Beutezug befindliches Wesen, einen Betrüger, einen Heiratsschwindler. Wir sind gegen Ende ziemlich sicher, dass er ein Heiratsschwindler ist. Wieder spricht er eine ältere Frau an, setzt sich zu ihr an den Tisch, umgarnt sie, fragt, ob man sich nicht früher schon begegnet wäre, ist dabei zunehmend irritiert von dem seltsamen Entsetzen, mit dem sie ihn anstarrt. Bis er, nun zu seinem eigenen Erschrecken, die eingravierte Häftlingsnummer auf ihrem Unterarm sieht. Ja, wir sind uns schon begegnet, flüstert die Frau. Sie hat in ihm den ehemaligen KZ-Aufseher erkannt.

Das Ungeheuerliche, findet Susanna Piontek, erwächst aus kaum wahrnehmbaren Nuancen, winzigen Entscheidungen, oft nur aus Schwäche, Lauheit, Geschehenlassen. Die Bereitschaft zum Verbrechen ist in uns angelegt, es ist eine Frage der inneren Resistenz, ob wir ihr erliegen oder nicht. Wo es diese Resistenz nicht gibt, wo humane Bedenken nicht entwickelt, Skrupel abgeschafft, Erbarmen und Mitgefühl verkümmert sind, muss das Verbrecherische zum alltäglichen Muster des Lebens werden. Es ist das sichtbare Äußere einer vorangegangenen inneren Verödung.

Wenn Hannah Arendt in Zusammenhang mit Eichmann von der „Banalität des Bösen“ gesprochen hat, legen Pionteks Erzählungen die These nahe, das Böse sei noch geringfügiger, es sei nichtig. Gewiss, seine Wirkungen sind oft monströs und erschreckend. Doch sucht man ihren Impuls, ihr Motiv, ihre Ursachen, greift man nicht selten ins Leere. Die Figuren Susanna Pionteks – selbst da, wo sie das Leben anderer bedrohen oder zerstören – begreifen kaum, was sie tun, wissen nicht, warum. Auf das spontane Lachen, das manche Geschichten auslösen, folgt oft ein Erschrecken. Susanna Piontek richtet sich an die, die dieses Erschrecken noch kennen. Die den scheinbaren Triumph der Erbarmungslosen nicht für die ultima ratio halten. Die das einander Begaunern, Betrügen, Berauben, das in diesen Schlafzimmern, Sesselecken, Büros zu Hause ist, nicht bewundern.

Die Autorin gehört selbst zu diesen Unbeeindruckten. Sie erzählt das groteske Geschehen ihrer Geschichten in einem manchmal humoristischen, manchmal distanzierten Duktus, der die Figuren nicht gleich zu erkennen gibt. Sie treten als normale, betont durchschnittliche Leute auf, erst allmählich verstricken sie sich in Leidenschaften, Begierden, Übergriffe. Im Mittelpunkt stehen die Menschen, nicht die Ereignisse. Obwohl die Geschichten aufregend, überraschend, spannend sind, werden sie nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern um der Menschen willen, denen das Mitgefühl der Autorin gilt.

Dieses Mitgefühl macht Susanna Pionteks Geschichten unvergesslich. Auch, wo ihre Figuren nichts offenbaren als Aggression, Ichsucht, Hohlheit, gilt ihnen das Erbarmen der Erzählerin. Die vermeintlichen Sieger sind in Wahrheit Verlierer. Die Kehrseite der „Spaßgesellschaft“ ist ihre Gnadenlosigkeit. Zu spät werden die Lachenden, Selbstsicheren verstehen, dass wir am Ende alle Hilfe brauchen, Mitgefühl und Liebe. Susanna Pionteks Geschichten haben einen humanen Grundton, ein eher trauriges Anmahnen des Menschlichen in zunehmend absurden, den Menschen vernachlässigenden Umständen. Für mein Gefühl der beste Boden, auf dem Literatur gedeihen kann.

Susanna Piontek: Rühlings Erwachen und andere Geschichten. Verlag für Berlin-Brandenburg, 2005

© CHAIM NOLL, 2006